Mauern aus Gummi.
Familie Brettstein und wir sind Nachbarn - man könnte sagen: seit
Menschengedenken. Ich sah die Kinder aufwachsen und kenne viele Einzelheiten
aus der Vorgeschichte von Frau Brettstein. So zum Beispiel, daß ihre
Mutter gestorben ist, als Frau Brettstein neun Jahre alt war und ihr Bruder
vierzehn. Der Vater heiratete wieder, eine Witwe mit zwei erwachsenen
Töchtern. In der neue Familie ging es den verwaisten Geschwistern wie
Aschenputtel aus dem Märchen. Selbst der Vater hatte keine Augen für
die Nöte seiner Kinder. Seine Devise war: Nimm von niemandem etwas an,
dann brauchst du auch nicht "Dankeschön" zu sagen.
War es da verwunderlich, daß die junge Frau Brettstein nach Kräften
versuchte, diesem Grundsatz zu folgen? 1930 heiratete sie, mit einundzwanzig.
Ihre erste Tochter genoß zehn Jahre die Vorteile eines Einzelkindes. Dann
kam 1941 noch ein Schwesterchen dazu und 1946 ein weibliches Zwillingpaar. Es
folgten harte Jahre für die sechsköpfige Familie. Frau Brettstein
opferte einen großen Teil ihrer Hauswäsche für Babywindeln,
funktionierte Stühle zu Kinderbettchen um, verlängerte zum wievielten
Mal den Haferbrei mit Wasser und Süßstoff, damit die Kleinen endlich
einschliefen. Wie ein Frisörsalon von innen aussah, wußte sie wohl
nicht mehr. Sommers und winters verdeckte sie ihr Haar mit einer Art
Wollschal-Turban. Frau Brettstein konnte nähen und stricken. Nicht selten
sah ich ein Heftpflaster um ihren Zeigefinger, weil der Strickfaden sich im
Laufe vieler Arbeitsstunden in ihre Haut gegraben hatte. Wenn aus dem
Natural-Entgelt für ihre geleistete Heimarbeit wieder ein warmes
Stück für die Kinder entstanden war, bemerkte Frau Brettstein mit
Genugtuung: "Uns sieht es keiner an, wie arm wir sind, dafür werde ich
schon sorgen!"
In der Zeit der Care-Pakete hatte eine Frau der Kirchengemeinde ihr angeboten,
sich aus den Kleidungsstücken etwas auszusuchen. Da war Frau Brettstein
wütend geworden: "Geben Sie denen die Sachen, die besser klagen
können - wir helfen uns schon selber!"
Durch die Töchter erfuhr ich aber auch von Tagen, an denen sie die Kinder
um sich scharte und ihnen das Ergebnis einer schlaflosen Nacht mitteilte: "Ich
gehe heute ins Kaufhaus X. Da nehme ich nochmal einen Warenkredit auf, dann ist
unser Weihnachtsfest gerettet. Heute nacht kam mir die Idee. Seht ihr, so hilft
uns der liebe Gott immer weiter!"
So ein Kredit kam Frau Brettsteins Lebensmotto sehr entgegen. Sie konnte
kaufen, als stünde ihr alles unbegrenzt zur Verfügung und dann
löste sie die Verpflichtung Teilbetrag für Teilbetrag ab, mit dem
guten Gefühl zum Schluß, keinem etwas schuldig zu sein. Selbst heute
kommentiert Frau Brettstein noch jede Hilfeleistung mit den gleichen Worten:
"Das war doch nicht nötig! Wie kann ich dir das nur wieder gutmachen?"
Nach menschlichen Maßstäben hat sie wirklich alles getan, ihren Mann
und die Kinder gesund durch die mageren Jahre zu bringen. Ich frage mich
manchmal, wieviel zermürbende Sorgen ihr erspart geblieben wären,
hätte sie mehr gutgemeinte Hilfe angenommen. Aber sie wehrte sich dagegen,
"Danke" sagen zu müssen. So ist ihr auch nie in den Sinn gekommen,
daß die Serie von Notlügen, die ihre geordnete Fassade hochhielt,
Schuld sein könnte.
In einem Gespräch mit ihr erwähnte ich einmal, daß alle
Menschen Sünder seien, ausnahmslos. Da polterte sie los! Sie hätte
Vergebung nötig? "Wo gibt´s denn sowas? Wer hat denn immer
zurückgesteckt, wenn neue Anschaffungen fällig waren? Hätte ich
nicht für alles gesorgt, dann wäre die Familie untergegangen!" So
drehte sie das Thema um und nahm mir den Wind aus den Segeln. Seit diesem Tag
tut sie mir leid.
Wieso hat sie niemals begriffen, daß sie trotz aller Abwehr jeden Tag
Hilfe und Liebe von anderen empfangen hat? Hat sie die Arbeit ihres Mannes zum
Beispiel je anerkannt? Ein klar ausgesprochenes "Danke" hat er, soviel ich
weiß, nie gehört. Dazu kommt noch, daß sie ja in
Verwandtschaft und Nachbarschaft eingebunden war und ist. Aber deren
freundliche Hilfe legt sie meist als Heuchelei aus.
Und der "liebe Gott"?, der ihr so oft "gute Ideen" eingab? Nahm sie dessen
Hilfe wenigstens dankbar an? Seltsamerweise hat sie in diesem Zusammenhang nie
gesagt: "Das war doch nicht nötig, wie kann ich Dir das wieder gutmachen?"
Da hielt sie es lieber mit dem Spruch: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!
Familie Brettstein wohnt im zweiten Stock rechts. Das Mietshaus steht direkt
neben der Kirche. An Sommertagen lehnten Frau Brettstein und ihre Kinder sich
gerne aus dem Fenster und beobachteten von oben die Leute. Sie sah die Autos
vorfahren, und vornehm angezogene Kirchgänger aussteigen. Zu dieser
Gesellschaft fühlte sie sich nicht hingezogen. Worüber würden
die schon reden? Über neue Kleider und Geld, worüber sonst?! Die
Sache mit der Bibel und dem Frommsein, die regelte der Pastor, davon verstanden
Laien sowieso nichts.
Die Not der Nachkriegsjahre war auch für Brettsteins einmal
überwunden. So war alles, was mit Gott zu tun hatte, für Frau
Brettstein kein Thema mehr. Einige Male versuchte ich, sie zu
Gemeinde-Bibelstunden einzuladen. Ich wußte ja von ihrer Ablehnung gegen
die sogenannte vornehme Clique, darum hatte ich ausdrücklich erwähnt,
daß die Besucher hauptsächlich Hausfrauen und Arbeiter seien. Aber
sie ging nicht darauf ein. Viel später erfuhr ich dann von ihrer Tochter
Iris den wahren Grund: Frau Brettstein hatte seit ihrer Schulzeit nicht ein
einziges Buch gelesen, noch nicht einmal einen zusammenhängenden
Zeitungsartikel. Briefe zu schreiben fiel ihr nicht schwer - aber etwas zu
lesen, über das man am Ende wohlmöglich noch nachdenken muß, -
das war ihr von jeher reine Zeitverschwendung.
Im ersten Schwung ihres jungen Glaubens hatten Iris und ihre Schwester der
Mutter Bücher und Traktate mitgebracht. Dann war ihnen bewußt
geworden, wie wenig sie damit erreichen konnten. Sie gaben mir den Tip, Frau
Brettstein stattdessen mit einfachen Worten zu erzählen, was wir in
unserem eigenen Alltag mit Christus erleben. Wie Frau Brettstein darauf
reagiert, läßt mich seufzen. "Ja, ja, wenn wir den lieben Gott nicht
hätten!"
Mir scheint, als würde die Mauer zwischen einem stolzen Menschenherzen und
der Güte Gottes mit den Jahren nicht nur höher, sondern auch
gummi-artiger, Mir hat das Wort aus Jeremia, Kapitel 23, immer so imponiert:
Ist mein Wort nicht wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt? Stolze Herzen
sind Gott ein Greuel. So steht es schon in den Sprüchen Salomos. Ach,
wäre Frau Brettsteins Herz nur hart wie ein Felsen, dann hätte ich
Hoffnung.Gottes Wort könnte diese Mauer erschüttern und
einstürzen lassen. Was macht man aber gegen ein widerstandsloses,
nachgiebiges Gebilde, das immer wieder in seine alte Stellung
zurückgleitet?
Hat Frau Brettstein ihre letzte Chance verpaßt? Sollten wir
aufhören, sie mit frommen Reden zu "belästigen"? Können wir die
letzten Monate oder Jahre nur noch recht nett und lieb zu ihr sein, daß
sie in Ruhe diese Welt verlassen kann? Eingeschlossen für ewig in ihre
Gummizelle aus Stolz und Unwissenheit?
Mit dieser Frage vor Augen schaute ich mir den Jeremia-Vers noch einmal an -
und las ihn plötzlich ganz neu. Es heißt dort nämlich
wörtlich: Ist mein Wort nicht wie ein F e u e r und wie ein Hammer, der
Felsen zerbricht?"
Ich sprach mit Iris darüber. Nun sind alle, denen Frau Brettstein am
Herzen liegt, überein gekommen, tatsächlich weniger mit ihr
über Gott zu sprechen, dafür aber mehr mit Gott über Frau
Brettstein. Sein Wort ist eben nicht nur ein Hammer, der Menschenherzen mit
Gewalt zerbricht, sondern in erster Linie ein Feuer, In diesem Feuer kann auch
die formlose Masse schmelzen, die sich bei Frau Brettstein in höflichem
Kopfnicken und innerer Abwehr äußert. Dieses Feuer kann aber auch
das Echte an Frau Brettsteins Lebenswerk reinigen von eigensüchtigem
Stolz. Es kann auch Licht spenden, damit sie endlich den entdeckt, der alles
für sie getan hat, ohne daß sie es ihm "wieder gutmachen"
muß.
Noch lebt Frau Brettstein!