Ein altes Märchen ?!
Seit vorigen Freitag war also wieder eine Frau im Haus. Der Vater hatte der zwölfjährigen Julia und dem zehnjährigen Dirk mit strengem Blick befohlen, Mutter zu der Fremden zu sagen. Julia und Dirk verstanden nichts mehr. Auf der Beerdigung ihrer Mama waren Papa und sie noch ein starkes Team gewesen. Danach kam der Vater immer öfter sehr spät nach Hause und aus seinem Mantel stieg Alkoholdunst. Kurz nach Ostern brachte er an einem Sonntag dieses "Knochengestell" mit zum Kaffee, wie Dirk die Frau nannte. Sie blieb bis weit in die Nacht und kicherte mit Papa über Sachen, die die Kinder überhaupt nicht lustig fanden. Das einzig Positive war, fand Julia, daß ab diesem Tag die Zimmer wieder aufgeräumt aussahen und sie ihre Brote fürs Schulfrühstück nicht mehr selbst schmieren mußten. Leider dauerte das nur einige Wochen. Zuerst meckerte sie über herumliegendes Spielzeug, dann mußten die Kinder ihr Zimmer selbst aufräumen und sauberhalten, am Morgen war entweder kein Brot im Haus oder die "Mutter" schnarchte noch, als wollte sie einen Wald abholzen.
Julia und Dirk verzogen sich zu ihren Freunden so oft sie konnten. Sie hätten gerne mit Vater gesprochen, aber er war selten zuhause. Am ersten Tag der Sommerferien holte ein Krankenwagen Vater ab. Nur heimlich besuchten ihn die Kinder in der Klinik und gingen jedesmal trauriger wieder fort. Zwei Wochen später standen sie wieder auf dem Friedhof. Diesmal hielt keiner ihre Hand und sagte: Wir sind ein starkes Team!
Zuhause wurde alles nur noch schlimmer. Plötzlich tauchten alte Bekannte der Stiefmutter auf. Was sie im Wohnzimmer trieben, war den Kindern schleierhaft. Schrille Schreie und dunkle, unnatürliche Stimmen schreckten sie manchmal aus dem Schlaf. Julia vermutete, daß sich bei ihnen ein okkulter Zirkel eingenistet hatte. Dirk konnte sich darunter nichts vorstellen, aber seine Angst wuchs. Regelmäßige Mahlzeiten gehörten längst der Vergangenheit an, Drohungen und Schläge für kleine Unachtsamkeiten waren normal.
Der Sommer war heiß, in den Nächten kühlte es kaum ab. Julia und Dirk packten einige Kleidungsstücke in ihre Rucksäcke. Nach Proviant zu suchen, trauten sie sich nicht, in der Küche brannte noch Licht. Sie schlichen durch den Keller in den Garten, krochen auf allen Vieren durch das seit langem nicht gemähte Gras und kamen zur Straße an einer Stelle, die von keiner Laterne erhellt wurde. Ihre Sommersandalen nahmen sie in die Hand und rannten auf bloßen Füßen aus dem Ort heraus, den Feldern zu. Wenn sie erst an der Bundesstraße wären, würden sie sicher per Anhalter weiterkommen. "Und wenn der Fahrer das meldet und die Alte läßt uns zurückholen?" greinte Dirk. Julia blieb stehen. So weit hergeholt war Dirks Sorge nicht. "Dann laß uns zufuß gehen!" sagte sie entschlossen und schlug den Weg durch das Waldstück ein. Hier kannte sie sich aus, auch wenn es mittlerweile stockdunkel war.
"Wir müssen hier lang," unwillkürlich flüsterte Julia. "Hörst Du den Bach? Den könnte ich glatt austrinken!" Dirk leckte sich die trockenen Lippen. "Meinst Du, ich kann einen Schluck davon nehmen? Mir ist schon ganz schlecht vor Durst!" Julia schimpfte. "Du tickst wohl nicht richtig! Das ist doch das Rinnsal, das hinter unserm Haus vorbeiläuft. Du weißt doch, daß die Alte da immer die Reste von ihren Mixturen reinschüttet, aus denen sie ihre angeblichen Schönheitswässerchen macht. Die stinken doch drei Meilen gegen den Wind."
Dirk schüttelte sich und ging mit gesenktem Kopf weiter. Durch die Stämme schimmerte ein kleiner Teich. Dirk kniete sich hin und wollte mit den Händen daraus schöpfen. Julia riß ihn beiseite. "Man könnte denken, Du wärst krank da oben!" schrie sie. "Guck Dir doch die Brühe an! Wer weiß, wieviele Ölkanister hier schon ausgeleert wurden! " Dirk weinte. Ein paar Schritte quälten sie sich noch vorwärts, dann ließ sich Dirk auf einen Mooshügel fallen. Julia nahm ihn in die Arme und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Dirk drehte sich zur Seite. Plötzlich sprang er auf, lief zu dem Baumstumpf am Weg und griff nach einer Flasche, die halb zwischen den Wurzeln lag. Er schüttelte sie, drehte den Verschluß auf - und ehe Julia nachkommen und sie ihm entreißen konnte, hatte er schon einen großen Schluck von der Flüssigkeit getrunken. Julia sah, wie ihr Bruder sich verkrampfte, er hielt sich den Leib und stöhnte - aber er brachte kein Wort heraus. Sein Gesicht wurde grün. Julia hoffte, er würde sich erbrechen, aber sein Mund ging nur auf und zu wie bei einem Fisch. Julia schüttelte ihn, sie weinte und schrie ihn an aus lauter Verzweiflung. Dirk beruhigte sich allmählich, legte sich einfach ins Moos und schlief ein - wie ein Tier, so dumpf und ohne ein Wort. Auch Julia sank übermüdet neben ihn.
Jeder Vogel im Wald sang seine eigene Morgenmelodie. Julia erwachte, hörte eine Weile mit geschlossenen Augen zu und setzte sich dann ruckartig auf. Alles fiel ihr wieder ein. Ihr Bruder Dirk war bereits aufgestanden und leckte die Tautropfen von den Baumrinden wie ein Waldtier. Er sah zu ihr hin, und Julia hätte am liebsten laut aufgeschrien bei seinem Blick. Dieses Teufelszeug aus der Flasche hatte Dirk vergiftet. Er konnte gehen, er konnte essen, aber aus seinem Mund kamen nur ein paar leise, klagende Töne. In seinen Augen war keine menschliche Intelligenz mehr. Julia spähte nach der Flasche, sie lag noch am Baum. Kein Etikett, kein Hinweis. Julia holte aus und zerschlug das Glas. Eine lilafarbene Soße lief heraus. Julia schauderte. Sie hatte plötzlich die Gestalt der Stiefmutter vor Augen. Ob die bösen Dinge, die sie sich in ihren Schwarzen Messen ausdachte, auch bis hierher reichten? Lagen in dem Waldstück noch mehr solche hinterhältigen Fallen für ahnungslose Wanderer? Nur fort von hier! Aber wohin?
Julia hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Gingen sie zur Straße und sie würde telefonieren - mit wem? Die Polizei würde sie erst einmal zur Stiefmutter bringen oder in ein Heim. Das Jugendamt würde ihr Dirk wegnehmen und in eine psychiatrische Anstalt sperren. Noch hoffte Julia, daß die Wirkung des Giftes bald vergehen würde. Bis dahin
wollte sie mit Dirk im oberen Teil des Waldes bleiben. Da standen die Bäume dichter, es gab Sommerbeeren und einiges an Wildpflanzen, die eßbar waren. Der Vater hatte sie auf früheren Spaziergängen oft darauf aufmerksam gemacht.
Der Sommer blieb warm, die Kinder schliefen unter einem provisorischen Blätterdach. Dirk lief zwischen den Bäumen umher und war zum Glück nicht sonderlich bedrückt über seinen Zustand. Tage vergingen. Dirk veränderte sich nicht. Entdeckt wurden sie auch nicht - es suchte ja auch keiner nach ihnen. Die Nächte wurden kühler. Julia kam es vor, als sei sie viele Jahre älter geworden. Sie mußte mit Dirk irgendwo unterkommen, ganz gleich wo.
Auf der Bundesstraße fuhren in der Mittagsgluthitze nur wenige Autos. Manche Fahrer drehten sich erstaunt noch einmal um. Was mochte das für ein seltsames Kinderpärchen sein?
Rechtsanwalt Birkhoff hatte ein Gespür für Menschen in Problem-Situationen, besonders wenn es um Kinder ging. Er hielt bei den beiden Gestalten an. Das Mädchen saß zusammengekauert auf den Rinnstein, seine Hand mit dem ausgestreckten Daumen war herabgesunken.Der Junge hüpfte über die Grashalme, als sei er betrunken.
Herr Birkhoff bugsierte die Kinder auf den Rücksitz. Nach zwanzig Kilometern bog er in den Kiesweg ein und hielt vor dem alten Schieferhaus zwischen Eichen und Haselsträuchern. Frau Birkhoff sah ihrem Mann in die Augen, schüttelte langsam den Kopf und führte die Kinder ins Haus. Beim Abendessen sank Julias Kopf immer tiefer, Dirk hielt den Suppenlöffel, als benutze er solch ein Ding zum erstenmal. Frau Birkhoff ließ trotzdem Wasser in die Wanne. Die Kinder ließen es sich gefallen, von ihr gewaschen und frottiert zu werden. Ohne ein Wort gingen sie hinter der freundlichen Frau her und waren schon eingeschlafen auf dem breiten Gästesofa, als Frau Birkhoff die Tür hinter sich schloß.
Von den Verhandlungen mit den zuständigen Behörden bekamen die Kinder nicht viel mit. Julia mußte der Beamtin alles erzählen, von der Beerdigung ihrer Mama bis zu dem Mittag, als Herr Birkhoff sie an der Straße gefunden hatte.
Zur Familie Birkhoff gehörte noch Gerald. Er war sechzehn und hatte die gleichen blonden Locken wie seine Mutter. Er wollte Manager werden, ein ganz großer Mann in der Weltwirtschaft. Julia hörte ihm zu, sie bewunderte ihn. Sie war überhaupt sehr froh, daß sie und Dirk bei Birkhoffs bleiben durften. Der erwachsene Pflegesohn studierte seit kurzem in München, so waren zwei kleine Zimmer frei geworden. Dirk spielte meist im Garten, ab und zu half er Papa Birkhoff, wie Julia ihn bald nannte, Äste und Laub aufsammeln oder brachte ihm Werkzeuge aus dem Schuppen. Er aß kein Fleisch, trank wie ein Tier aus einer Schale, war aber sonst friedlich und auch zufrieden.
Fünf Jahre vergingen. Julia und ihr Bruder hatten kaum noch Erinnerungen an die böse Zeit bei ihrer Stiefmutter. Frau Birkhoff fiel auf, daß ihr Sohn Gerald öfter als sonst übers Wochenende aus seiner Studentenbude zurück ins Elternhaus kam. "Merkst Du was?" fragte sie ihren Mann an einem Samstagmorgen. Er nickte und lächelte. Julia rannte aus der Küche den Weg entlang, als sie Geralds Auto hörte. "Für Pflegegeschwister ein bißchen sehr herzlich die Begrüßung!" Die Mutter wußte nicht recht, welchem Gefühl sie nachgeben sollte.
Der Birnbaum hinterm Haus trug schwer an den großen, saftigen Früchten. Unter seinen Ästen, in der immer noch warmen Herbstsonne, stand ein langer, festlich geschmückter Tisch. Julia und Gerald kamen Arm in Arm aus dem Haus. Die Gäste begrüßten das Brautpaar mit Hallo und Gläserklingen. Wieder einmal wurde die Zimmer im Haus verändert. Gerald und Julia richteten sich die obere Etage ein, Dirk zog zu den Pflegeeltern ins Parterre.
Geralds Studium dauerte noch an. Julia half der Schwiegermutter weiter im Haus und im Garten, bis ihr das Bücken schwer wurde in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft. Sie hatte sich entschlossen, zuhause zu entbinden, obwohl Gerald nicht bei ihr sein konnte. Die Schwiegermutter kümmerte sich um eine erfahrene Hebamme. Es ging auch alles glatt, der jüngste Birkhoff war gesund und munter. Erik sollte er heißen. Julia war wohl ein wenig zu früh aufgestanden und hatte eine schmerzhafte Nachblutung. Die Hebamme versprach, eine Bekannte vom ambulanten Pflegedienst vorbeizuschicken, die sich um Julia fachgerecht kümmern würde. Mutter Birkhoff hatte ein ungutes Gefühl, als sie die Frau sah, die geklingelt hatte und in den ersten Stock hinaufging. Diese Stimme! Kalt wie Eis! Es war zu hören, daß Wasser in die Wanne gelassen wurde. Keine zehn Minuten später kam die Frau jedoch wieder herunter und verschwand ohne Gruß und Bericht. Mutter Birkhoff war in Sorge. Sie holte ihren Zweitschlüssel, lief die Treppe hinauf und betrat Julias Wohnung.
Aus dem Schlüsselloch der Badezimmertür kam gelber Dampf. Die Mutter rüttelte an der Klinke. Wieso war von innen abgeschlossen? Mit all ihrer Kraft lief sie gegen die Tür und brach das Schloß heraus. Der süßlich riechende Qualm füllte das ganze Badezimmer. Er entströmte einem Tontopf, der auf dem Fußboden stand. Durch den Nebel sah Frau Birkhoff Julia in der Wanne liegen, der Kopf hing zur Seite. Frau Birkhoff hielt sich ein Handtuch vor den Mund, lief zum Fenster und warf zuerst einmal den mörderischen Topf hinaus. Dann hob sie Julia soweit auf den Boden, daß sie sie ins Schlafzimmer schleifen konnte. Sie packte den nassen Körper in eine Decke, griff das Telefon und wählte mit zitternden Fingern den Unfallnotruf.
Am Nachmittag saßen Birkhoffs an Julias Bett. Die Ärzte im Labor hatten ihnen erstaunt und auch erschrocken mitgeteilt, welch raffinierte, tödliche Mischung in dem von der falschen Pflegerin deponierten Topf gewesen war. Julia hatte bereits mehrere Inhalationen bekommen. Zum Glück war ihr Immunsystem stark. Der Mordversuch mit dem Giftgas würde keine Folgen für sie haben. "Was schaust Du so nachdenklich?" fragte Mutter Birkhoff die Schwiegertochter. "Ich kenne das Gesicht, Mutter, das Gesicht der Pflegerin! Wenn ich nur wüßte, woher!"
Rechtsanwalt Birkhoff ließ die Sache ebensowenig ruhen wie die Polizei. Die Hebamme hatte den Pflegedienst beauftragt, aber sie wußte nicht, wer dann ins Haus geschickt worden war. Der Pflegedienst kannte die Frau auch nicht genau, sie war als Vertretung für Schwester Martha nur diesen einen Tag aufgetaucht. Schwester Martha war am Tag danach für drei Wochen nach Kalifornien zu ihrer Schwester geflogen. Es schien, als würde die Sache im Sand verlaufen. Als Julia aus der Klinik nach Hause kam, lief Dirk seiner Schwester aufgeregt entgegen. Seine Augen wurden groß und ängstlich, er machte seltsame Gebärden. Julia versuchte, ihn zu verstehen. Immer wieder hob er die Hand an den Mund. Wollte er trinken? Julia lief es plötzlich kalt über den Rücken. Trinken! Trinken aus einer Flasche! Aus der Flasche im Wald! Die Giftflasche! Sie rüttelte Dirk. "Dirk, sag die Wahrheit! War es die Stiefmutter?" Dirk nickte heftig, immer wieder. Er sprang umher und versteckte sich hinter den Bäumen. Julias Knie wurden weich, sie setzte sich ins Gras.
Mutter Birkhoff beobachtete die Szene von der Küche aus. Sie lief hinaus und stützte Julia. Julia fiel ihr um den Hals und schluchzte laut. "Es war, es war..."
Nun hatte die Hexe doch wieder zugeschlagen! Aber ihre Gier nach dem Erbe der Kinder ließ sie einen Fehler begehen. Sie hatte nicht auf Dirk geachtet, vielleicht wähnte sie ihn ohnehin schon lange tot. Als Zeuge würde er nun trotz, oder gerade wegen- seiner Beschränkung eine sehr wichtige Rolle spielen. Zur Klärung ähnlicher Giftanschläge in den letzten Jahren wurde Julias und Dirks ehemaliges Zuhause gründlich durchsucht. Im Keller und in Geheimfächern kamen große Vorräte chemischer Substanzen zutage, ebenso Aufzeichnungen über die Herstellung tödlicher Gifte und auch deren Gegenmittel. Die Bücher waren gespickt mit alten Zauberzeichen und Teufelssymbolen. Jeder dieser Beweise reichte aus für die Anklage wegen mehrfachen Mordes und schwerer Körperverletzung. Die Sachverständigen entdeckten unter anderem, wie sich die lila Brühe zusammensetzte, die dem jungen Dirk seinerzeit einige Gehirnfunktionen blockiert hatte. Es bestand nun Hoffnung, ihn entsprechend zu behandeln.
Die Gerichtsverhandlung gegen die Teufelsanbeterin wurde schon recht bald anberaumt, aber es kam nicht dazu. Am Tag vorher hatten zwei Freundinnen der Angeklagten Besuchserlaubnis, ausnahmsweise am Vormittag. Am Abend hörte die Aufsicht beim Kontrollgang in diesem Zellentrakt einen unnatürlich hohen Schrei. Die Mörderin lag vor ihrem Spind, verkrümmt und bleich, ein satanisches Lächeln um den Mund.