Ursula Hellmann Scharweg 6, 42799 Leichlingen,
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September ist es schon, September im Bergischen Land. Aber noch zeigen die
Bäume keine andere Farbe als grün, in den Zweigen schaukeln
Äpfel oder Birnen im warmen Wind. Zwetschgen gab es diesen Sommer nicht so
viele, dafür waren sie süß und groß.
Thomas Behler hält die restlichen Plakatkartons unter den linken Arm
geklemmt und drückt eins der Reklameblätter mit Heftzwecken an die
Holztafel. Er hat die Bretter und die Haltepfähle selbst gezimmert und an
der Straßenseite seines Grundstücks angebracht.
Jede Woche wechselt er die Angebotsplakate. Wer vorübergeht, liest von
feinen Erbsen in Dosen zu 98 Pfennig das Stück, von Blumenseife oder auch
von goldgelben Bananen zu 15 Pfennig das Pfund. Über den Hügel
kommen Stimmen. Vier Männer bleiben bei Thomas Behler stehen. Zwei von
ihnen versuchen, die Plakate zu entziffern. Sie tragen alle die gleichen Hosen
- von schmutzig-beiger Farbe aus festem Leinenstoff. Sie reden laut und
durcheinander; der Kleinste geht auf Thomas zu und fragt etwas. Soviel ist
sicher: er spricht italienisch, und Thomas versteht nur ein Wort in der Frage -
Cinema? Er muß lächeln. Wie soll er den Männern erklären,
was das hier ist? Er hebt die Schultern und antwortet: "Pardon, kein
Italienisch, nur langue francais, un peut." "Ecco! Bon, bon -
anch´ío francia - ma parlo molto meno!" Thomas zeigt auf die
Holztafel: "No Cinema, - est un Magazin!" Die Männer lachen mit ihm. Mit
Händen und Füßen erkundigen sie sich, ob es in diesem Magazin,
oder negozzio, eventuell Pasta zu kaufen gibt. Thomas Behler führt sie die
paar Schritte hin zu seinem Laden im Erdgeschoß seines Wohnhauses. Erst
voriges Jahr hat er zusammen mit seiner Frau den Keller ausgebaut und darin ein
Lebensmittelgeschäft eingerichtet.
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Dezember 1961 steht auf einer schwarzen Tafel in dem Erinnerungsfoto für
die Eröffnung. 40 qm Ladenraum, an den weißgestrichenen Wänden
praktische Regale für Haushaltwaren, für Konserven und
Schreibartikel,schräg rechts eine Haltevorrichtung für Obst- und
Gemüsekisten, Tiefkühltruhe und Aufschnittmaschine, Schokolade und
Bonbons - Thomas Behler verspricht sich etwas von der Diskontwelle, die bei den
Einzelhändlern seit einiger Zeit im Gespräch ist. Außerdem hat
er in dieser Gegend nun das größte Geschäft unter den
übrigen ca. 30 Verkaufsstellen.
Die vier Männer sehen sich in dem hübschen Laden um. Sie reden
ununterbrochen, laut und ungeniert. Thomas Behler kann nur von wenigen Worten
den Sinn erraten. Die Nudeln einer bekannten deutschen Firma gefallen den
Kunden gar nicht. Sie fragen nach Original Pasta d´Ítalia. Thomas
überlegt. Er hat richtig vermutet, daß die Männer in der
Unterkunft für Gastarbeiter wohnen, eine Strecke Wegs hinter der Gabelung
der Landstraße. Eine Tiefbaugesellschaft hat sie angeworben und ihnen in
der Nähe des Dorfes eine Wohnbaracke hingestellt. Inzwischen sind es wohl
zwanzig Männer, die dort leben - die meisten kommen direkt aus Sizilien,
einige aus Kalabrien.Thomas müßte einen Großhändler
ausfindig machen, der sich auf italienische Artikel spezialisiert hat. So etwas
fällt ihm nicht schwer. Er vertröstet die Männer auf -Samedi,
Sabbato- Bis Samstag hat er alles im Regal, was seine schwarzlockigen Kunden
wünschen.
Thomas Behler kennt sich bald in der Unterkunft der Männer gut aus.
Mehrmals in der Woche fährt er mit seinem Lieferbus die paar Kilometer bis
zur Dorfgrenze und bringt Nudelpakete, Brot,
Fleischkonserven, Alkoholika, Parmesankäse, italienische
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Wurstsorten, Tomaten, Kartoffel - der Kundenstamm , der sich hier entwickelt
hat, ist nicht zu verachten. Sie verständigen sich eine ganze Weile auf
Französisch. Thomas kramt seine im Krieg erlernten Brocken hervor. Er
hatte noch während seiner Lehrzeit in einem Rüstungsbetrieb
französische Zwangsarbeiter an den Maschinen angelernt. Und Guiseppe ist
stolz, daß er mit seinen, wer weiß wo, aufgeschnappten
Französischbrocken glänzen kann. Nunzio möchte ein Brot.
Nunzio sagt: Volio un pane - Guiseppe gibt weiter: Un pain, s´íl
vouz plait. Thomas Behler wird es bald zu dumm. Pane, Pain,- dafür braucht
er keinen Dolmetscher.
Es dauert nur einige Wochen, und Thomas nennt sämtliche Artikel seiner
Sizilianer beim Namen und rechnet ihnen die Beträge ihrer Käufe in
italienisch vor.
Erika Behler war viele Jahre Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus,
aber ihr ist immer ein wenig mulmig zumute, wenn zehn bis zwölf der Herren
in allen Ecken vom Laden herumgestikulieren. Sie kann ihrem Mann auch nicht
ständig zur Seite stehen, ihre Kraft reicht nicht aus für einen
ganzen Tag hinter der Theke.Thomas sieht sie oft besorgt an. Seit ihrer
Operation geht es auf und ab mit Erikas Gesundheit. Er kann nur hoffen,
daß sie sich bald erholt, er hat ja noch soviel vor, und jetzt ist er
durch seine fremdsprachige Kundschaft auf ganz neue, aufregende Aufgaben
gestoßen.
Zuerst möchte er so schnell wie möglich ihre Sprache besser lernen
und anwenden. Die gründlichste Methode entdeckt er an einem späten
Abend. Er hat sich einen Abreißkalender gekauft, in italienisch
natürlich. Nun liest er, mit dem Lexikon neben sich, das Blatt mit der
Tagesandacht von gestern, das Blatt mit der Andacht von heute und das
nächste Blatt.Es bleibt ihm in diesen Wochen abends viel Zeit zum Lesen.
Erika ist zur Kur im Harz.
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Tagsüber hält ihn die Arbeit vom Grübeln ab. Seit es so lebhaft
und bunt bei ihm zugeht, finden sich auch immer mehr Hausfrauen aus der
Nachbarschaft in seinem Laden ein. Bis dahin hatte er eigentlich mehr den
Eindruck, er würde als "Ausländer aus der Großstadt" abgelehnt,
ja boykottiert. Im Stillen amüsiert sich Thomas, wie Frau Müller und
Frau Schmitz mit offenem Mund dabeistehen, wenn er mit seinen Italienern
palavert wie einer von denen. Aber seine Freunde, die von den
Köstlichkeiten deutscher Märkte, die sie sich jetzt locker leisten
können, immer dicker und kurzbeiniger werden, - sie staunen auch. "Tomaso"
kann lesen, er kann schreiben, er kann fremde Sprachen sprechen - und er ist
geduldig und freundlich
mit ihnen. Er behandelt sie genauso wie seine deutschen Kunden. Das erleben
sie nicht oft - weder am Arbeitsplatz noch auf der Straße.
"Spaghettifresser!" ist noch eine von den
harmlosen "Nachrufen". Und sie sagen ihrem Thomas freiweg, daß ihnen ein
Mensch wie er im kalten Deutschland etwas Besonderes ist.
Mitte Dezember fiel schon Schnee, alle Straßenarbeiter sind "auf
Schlechtwettergeld".In der Unterkunft ist dicke Luft. Santo, Pietro und
Guiseppe können über die Feiertage nicht nach Hause fahren. Thomas
bringt den Grund dafür nicht aus ihnen heraus. Manchmal sind ihm die
Sizilianer wieder so fremd wie am ersten Tag. Heiligabendmorgen ist noch einmal
der Bär los im Laden. Zwei Aushilfsverkäuferinnen versuchen der Lage
Herr zu werden, sie sehen flehentlich zu Thomas hinüber, wenn sie beim
Käseschneiden für Frau Nebenan plötzlich italienisch
angesprochen werden. Thomas stellt die Lieferorder zusammen, er lädt den
Bus und fährt als letztes zur Unterkunft. Der Karton mit fünf
Flaschen Grappa wird in Empfang genommen, Thomas
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tritt einen Schritt zurück. Die hochprozentige Fahne Guiseppes nimmt ihm
den Atem. Santo und Pietro sitzen auf ihren Pritschen. Pietro tritt mit dem
Fuß eine Flasche unters Bett. "Was habt ihr vor?" "Wir werden uns jetzt
sinnlos besaufen, Tomaso, bis hierher - Guiseppes Hand findet nur schwer die
Linie unter seinem Kinn. " Und wenn wir wieder nüchtern sind, dann ist
Weihnachten vorbei, und die anderen Kameraden sind wieder hier. Basta."
Dieses Weihnachten ging wirklich vorbei, Guiseppe und die anderen sprechen
nicht mehr davon. Der Frühling kündigt sich an. Die Kunden vermissen
Erika Behler. Sie liegt im Krankenhaus, die zweite große Operation wird
diese Woche vorbereitet.
Es ist ein Samstag wie viele in diesen Jahren. Santo hat neue Freunde
mitgebracht. Sie kommen frisch aus Sizilien. Santo mimt den großen
"Fremdenführer" für die drei jungen Männer so zwischen achtzehn
und zwanzig.Es ist das erste Mal, daß sie aus den Bergen um Palermo
herauskommen. Sie tragen die Einheitshosen, in denen Santo und die anderen auch
ankamen. Es dauert nicht lange und Thomas kennt von jedem die
Familienverhältnisse,die Schulausbildung, ihre Hoffnungen und
Wünsche. Nur ein halbes Jahr wollen sie im Norden arbeiten, viel Geld nach
Hause schicken, im Sommer zurückfahren und in der Heimat bei der Ernte
helfen, nach dem Rechten sehen - vielleicht auch heiraten, wer weiß? Eine
Braut haben sie schon lange, der Vater des Mädchens und ihr Vater waren
sich einig, bevor der Junge zur Schule ging. Er hat immerhin drei Jahre in der
Dorfschule verbracht. Sein Freund Giulio war zwei Jahre dort. O, er ist nicht
dumm! Er kauft sich ein Brot und fragt: "Quanto costa?" Und Thomas sagt: Une
Marke trent. Giulio zieht eine Handvoll deutscher Münzen aus der Tasche
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Mark und drei gelbe Groschen auf die Theke. Er sieht den Rest Münzen an
und sagt: "E un´ etta Mortadella, prego!" Thomas wiegt die Wurst, rechnet
aus und sagt: "Novandotto Pfennig, prego!" Giulio gibt eine Mark. Dann sortiert
er wieder seine Münzen. "E un mezzo Kilo pomodori!" So geht das Spiel hin
und her, bis Giulios Münzen alle sind. Draußen auf dem Weg streut er
dann die restlichen sechs Kupferpfennige hinter sich. Pfennige behält er
nicht, es könnte ihm Unglück bringen.
Samstagnachmittag schlendern zwei Unzertrennliche, Santo und Guiseppe, von der
Unterkunft zu Thomas Haus. Behlers wohnen ja - wie praktisch - über dem
Laden und sind meistens anwesend.
Guiseppe hat einen Brief bekommen. Vom Arbeitsamt. Es ist ein Formular, das
ausgefüllt werden muß. Das ist für Guiseppe Chinesisch
rückwärts. Thomas muß helfen. Santo hat auch eine
Bitte. Er möchte nach Hause telefonieren. Es wird ein Gespräch
angemeldet, die Auslandsvermittlung gibt eine Wartezeit von ca. 2 Stunden an.
Guiseppe und Santo sitzen mit am Kaffeetisch, sie haben auch nichts gegen ein
deutsches Abendessen. Um 19 Uhr klingelt das Telefon. Santos Frau hat sich
unzweifelhaft erst ihr
bestes Sonntagskleid angezogen, als es hieß, ihr Mann würde anrufen.
Jetzt hört Thomas Behler und sein kleiner Sohn ihre aufgeregte Stimme aus
dem Hörer, unterbrochen von Krächzen und Rauschen; aber Santo ist
beruhigt, in Sizilien ist alles in Ordnung.
Guiseppe hat währenddem den Bücherrücken im Schrank
entlanggesehen. "Ecco!" Thomas folgt seinem Blick. Dort steht eine Bibel in
italienischer Sprache. Die Deutschen dürfen eine Bibel besitzen! In ihrem
Haus! Das ist ungeheuerlich für Guiseppe. Und dann wird dieses Buch auch
noch aus dem
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Schrank geholt, sogar angefaßt und aufgeschlagen!
Und Thomas liest Worte daraus vor, Worte die Guiseppe und Santo verstehen
können, Worte die zu Sätzen werden. Und die Sätze sprechen von
Geduld, von Liebe und von Gerechtigkeit! Guiseppe schüttelt langsam den
Kopf, seine Hände wringen die Enden des Jacketts. Auch Santo kann es noch
nicht glauben, solch ein Buch selbst in der Hand zu haben. "Was da drin steht,
das hat doch Dante geschrieben! Dante Alighieri!" Darum ist es für ihn ein
erhabenes Werk, das er ehrfürchtig wieder auf den Tisch zurücklegt.
Thomas lacht. Er versucht, Santo den Unterschied zu erklären. Santo hat
wohl irgendwann einmal etwas von Dantes berühmter "Divina Comedia"
aufgeschnappt und verwechselt die "Göttliche Komödie" nun mit der
"Heiligen Schrift".Er hat weder das eine wie das andere je von nahem
gesehen.
Thomas Behler kennt seit Jugendtagen den Leiter eines Verlages für
christliche Literatur. Dessen Haus ist in letzter Zeit fast zu klein für
alle Schriften, Bücher, Kalender in den verschiedenen Sprachen, die immer
mehr auf deutschen Straßen zu hören sind.Hauptsächlich
Italienisch, aber auch Spanisch, Jugoslawisch und Griechisch ist dabei, und der
alte Herr Kramer hat alles im Griff - er weiß, wo was gelagert ist, er
weiß, mit welchen Worten wer am besten angesprochen wird. In diesem Jahr
hat er eine junge Koreanerin als Praktikantin und scheucht sie mit der gleichen
kauzigen Liebe wie seine übrigen Helfer.
Als Thomas schildert, was sich bei ihm in Haus und Laden abspielt, bekommt er
von Herrn Kramer die Adresse eines Sizilianers aus der Nachbarstadt, der eine
theologische Kurzausbildung macht und nach Möglichkeiten
sucht, seine Kenntnisse praktisch anzubringen. Dieser
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Domenico, verheiratet mit einer deutschen Frau, und Thomas sitzen kurze Zeit
später in einem der Schlafräume in der Gastarbeiter-Unterkunft, und
dann alle vierzehn Tage mit Gitarre, Liedblättern und Bibeln. Um sie herum
der größte Teil von Thomas treuer Kundschaft im Laden. Sie singen
mit Schmelz und Lautstärke, - und ab und zu treffen sie auch den richtigen
Ton. Es gibt lange, ernste Gespräche, auch ziemlich heiße
Diskussionen, und die Freundschaft wird enger.
Thomas und Domenico sind in der Unterkunft im Dorf ein fester Begriff geworden.
Bis zu dem Tag, als sie von der Firmenleitung aufgefordert werden, ihre
vierzehntäglichen Besuche sofort
einzustellen. Ein Landsmann aus dem hinteren Schlafraum hatte
eine Beschwerde eingereicht, die Singerei würde ihn sehr stören, wenn
er abends früh zu Bett gehen wollte. Aber wohin nun zusammen mit denen,
die wirklich mehr hören wollten, mehr lernen und verstehen von dem, was
ihnen zuhause vorenthalten wurde? Erika Behler hat nach ihrem langen
Krankenhausaufenthalt wieder eine gute Zeit. Sie spielt wieder mit im
Gitarrenchor der Gemeinde und erzählt ihrer Freundin Magdalene von Thomas
Problemen mit "seiner" Italienergruppe. Magdalene hat einen italienischen
Stiefvater. Er ist viel jünger als ihre Mutter und lebt in der Familie wie
Aschenputtel. Durch ihn kennt Magdalene alle italienischen Gastarbeiter aus der
großen Firma für landwirtschaftliche Geräte. Das Unternehmen
ließ sogar eine kleine Siedlung bauen für seine fremden Arbeiter.
Dort wohnen nicht nur Junggesellen. Einsame Familienväter haben ihre
Ehefrauen und die Kinder nachgeholt ins gelobte Land.
Hinter dem Firmengebäude gibt es einen Gemeindesaal. Thomas funktioniert
seinen Lieferbus zum Personentransporter um und fährt die Gruppe zur
gewohnten Zeit dorthin. Sie laden auch die
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Arbeiter aus der Siedlung zu ihren Stunden ein.Erika Behler, Magdalene und
noch ein paar Freundinnen vom Gitarrenchor sind ganz stolz, wenn sie bei den
Veranstaltungen für die Gastarbeiter wieder ein neues Lied auf Italienisch
vortragen können. Für viele ihrer Zuhörer sind die Texte fast
ebenso fremd wie für die deutschen Mädchen. Sizilien ist eben von
Mailand und Rom doch sehr weit entfernt.
Thomas erfährt vieles vom Alltag in Sizilien. Geschichten von
Großgrundbesitzern, die ihre Saisonarbeiter über den Tisch ziehen,
Geschichten von Klöstern, die die Intelligenz der Landkinder in falsche
Kanäle leiten, damit keine ernstzunehmende Opposition aufwächst, -
Thomas freut sich mit Michele, der sich von seinen ersparten Lohngeldern als
erstes einen Betonfußboden in sein Häuschen ziehen will und dann vom
Brunnen aus eine Leitung ins Haus verlegen, damit seine Frau die schweren
Wassereimer nicht mehr so weit schleppen muß.
Antonio fährt zu Anfang der Sommerferien ganz stolz mit zwei Kisten voller
Einweck-Gläser nach Hause. Diese Methode, Obst zu konservieren, hat ihn
total begeistert. Jetzt brauchen die Feigen und Aprikosen nicht mehr unter den
Bäumen zu verrotten, weil die Menge der Früchte in der Reifezeit
einfach nicht schnell genug gegessen werden kann.
Aus dem halben Jahr Arbeitszeit in Deutschland werden für die drei jungen
Sizilianer um Santo dann im Nu mehr als sechs Jahre. Das heißt, in
Wahrheit nur für zwei von ihnen. Giorgo kam nach dem Sommerurlaub nicht
mehr in die Unterkunft zurück. Die
Firma hatte ihm ein Entlassungsschreiben nach Hause geschickt, weil er nach
Ferienende nicht zur Arbeit erschienen war. Seinen Freunden hatte er nur
gesagt, sein Geld sei noch nicht alle, er hätte noch mindestens für
weitere drei Wochen genug zum
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Leben in seinem Heimatort, also, -warum sollte er zurückfahren? Daß
die deutsche Firma davon absolut nicht begeistert war, verstand er
überhaupt nicht. Diese Lebenseinstellung macht auch Thomas und Domenico
manchmal zu schaffen. An ihrem Abend im Gemeindehaus gibt es
regelmäßige und spontane Besucher, und zur Weihnachtsfeier
drängten sich über 50 Gäste an den reichgedeckten Tischen. Auch
in der nächsten Adventszeit wurde wieder geplant, geübt und
eingekauft, die Tische dekoriert und an jeden Platz ein nettes Geschenk gelegt.
Um 20.00 Uhr liefen die Helfer nervös durch die Räume, schauten zur
Tür hinaus und konnten sich die Stille nicht erklären. Um 20.30 und
um 21.00 Uhr wurden dann kleinlaut die Tische wieder umgestellt und alles in
Kartons verpackt. Es war nicht einer der mehrfach eingeladenen Gäste
erschienen.
Thomas verkaufte seinen Freunden italienische Pasta, er bot ihnen kleine
Portionen Tiefkühlfleisch an und amüsierte sich mit ihnen über
seine Ausrutscher in ihrer melodischen Sprache, wenn er zum Beispiel fragte: "
Volete altri pezzi di cane? " anstatt "carne", denn Hundefleisch hatte er
garantiert nicht in der Truhe!
Als der Kalender die Jahreszahl 69 zeigte, veränderte sich vieles für
Thomas und auch für seine Italiener. Der Tod hielt Einzug in Haus und
Laden. Erika Behler starb nur wenige Monate nach Thomas alter Mutter.
Außer Thomas und dem verwaisten Sohn bedienten fremde Leute die
Kundschaft. In der Unterkunft wohnten nur noch zehn "kleine Negerlein", die das
Ende ihrer Arbeitszeit schon ahnten. Ein Teil ihrer Arbeitskameraden hatte sich
in der Umgebung eigene Wohnungen gesucht und die Stelle gewechselt, aber die
größere Anzahl war nach Italien zurückgekehrt, weil sie
hofften, durch die europäische Hilfe auch für Sizilien nun in der
Heimat eine Existenz aufbauen zu können. Die deutschen Firmen waren nicht
sehr traurig darüber.
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War es 1972 oder 73 ? Seit einiger Zeit jedenfalls hat sich Familie Behler
stark vergrößert. Eine neue Frau Behler steht im Laden und Ulrich
Behler hat eine kleine Schwester.
Frau Behler lernt noch einige Gastarbeiter persönlich kennen. Zum Beispiel
Maria-Guiseppa. Sie geht und spricht genau so, wie sich Lieschen Müller
eine typische italienische "Mama" vorstellt. Sie kann wunderbar Pizza backen,
die sogar eine viertel Stunde, nachdem sie aus dem Ofen kommt, noch
genießbar ist.. Wenn gesungen wurde, war sie mit Leib und Seele dabei.
Sie fand nur meist die Seite nicht, auf der das Lied stand. So reichte sie
Thomas ihr Buch und bat, ihr die Nummer aufzuschlagen. Thomas drehte das
Liederbuch dann ersteinmal herum. Maria-Guiseppa war es nicht aufgefallen,
daß der Text auf dem Kopf stand. Frau Behler versuchte ernst zu bleiben.
Maria war ja nicht Schuld daran, daß sie keine Schule besuchen durfte.
Von dem mittleren Weltuntergang bei dem jungen sizilianischen
Ehepaar, das in der Nähe der Unterkunft eine Wohnung in einem alten
bergischen Fachwerkhaus gefunden hatte, hörte sie nur noch erzählen.
Mario hatte die Schwangerschaft seiner Frau abgewartet und bald darauf sie und
die winzige Marisa zu sich geholt.Beide fanden Arbeit, und gaben ihre kleine
Tochter in die Obhut der deutschen Hausbesitzerin. Warum sollten sie sich
Sorgen machen? Es war eine liebe Oma, ihr Baby war bei ihr gut aufgehoben. Die
Monate vergingen, die Kleine plapperte die ersten Worte. Es waren deutsche
Worte. "Oma, Oma!" und "runter, laufen!" Ihre Mama kam abends spät
nachhause, nahm Marisa in die Arme und sagte: "Mio tesoro, dolce bambina mia!"
Und Klein- Marisa schaute die Mama mit erschrockenen Augen an. Sie verstand
Mama und Papa nicht. Die jungen Eltern hatten an ihrer Arbeitsstelle nur
Kontakt mit Landsleuten, die deutsche Oma sprach kein Wort Italienisch - so
spitzte sich die Lage zu.
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Marisa gehorchte nicht, wenn Papa rief: "Ecco, qui!" Wie sollte sie auch.Die
Eltern verzweifelten und das Kind weinte, wenn der Vater tobte und schrie. Die
kleine Familie zog dann fort, und Thomas wußte nichts mehr von ihnen.
Santo lebt noch heute in einer kleinen Stadt an der Wupper. Er arbeitet seit
seinem 45. Lebensjahr nicht mehr - und das war ca. 1976 -. "Ich lange genug
für meine Kinder gesorgt, nun sie sollen es für mich tun!" Das war
seine überzeugte Antwort auf Thomas Frage. Thomas Behler und seine Familie
haben kein Lebensmittelgeschäft mehr. Konkurrenz und Umstände
führten zu einer völlig anderen Erwerbsquelle. Wenn er es richtig
bedenkt, haben die Jahre der italienischen Gastarbeiter hier im Norden nicht
viele Spuren hinterlassen. Es gibt Pizzerien, es gibt eine Menge mehr
Nudelsorten und einige wenige familiäre Querverbindungen. Aber sonst? Nach
den Sizilianern kamen vermehrt Jugoslawen, Griechen, Spanier, und dann
Türken. Heute beherrscht Thomas mehr türkische Worte und
Redewendungen als die meisten Italiener in all den Jahren Deutsch sprachen.
Seine Erlebnisse mit Türken, Griechen, Japanern, englisch-sprechenden
Holländern und deutsch-
radebrechenden Indern geben eine neue Story ab - aber an die hautnahe Dramatik
der Zeit mit "seinen" Italienern" reicht sie nicht -oder noch nicht?- heran.
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