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September ist es schon, September im Bergischen Land. Aber noch zeigen die Bäume keine andere Farbe als grün, in den Zweigen schaukeln Äpfel oder Birnen im warmen Wind. Zwetschgen gab es diesen Sommer nicht so viele, dafür waren sie süß und groß.
Thomas Behler hält die restlichen Plakatkartons unter den linken Arm geklemmt und drückt eins der Reklameblätter mit Heftzwecken an die Holztafel. Er hat die Bretter und die Haltepfähle selbst gezimmert und an der Straßenseite seines Grundstücks angebracht.
Jede Woche wechselt er die Angebotsplakate. Wer vorübergeht, liest von feinen Erbsen in Dosen zu 98 Pfennig das Stück, von Blumenseife oder auch von goldgelben Bananen zu 15 Pfennig das Pfund. Über den Hügel kommen Stimmen. Vier Männer bleiben bei Thomas Behler stehen. Zwei von ihnen versuchen, die Plakate zu entziffern. Sie tragen alle die gleichen Hosen - von schmutzig-beiger Farbe aus festem Leinenstoff. Sie reden laut und durcheinander; der Kleinste geht auf Thomas zu und fragt etwas. Soviel ist sicher: er spricht italienisch, und Thomas versteht nur ein Wort in der Frage - Cinema? Er muß lächeln. Wie soll er den Männern erklären, was das hier ist? Er hebt die Schultern und antwortet: "Pardon, kein Italienisch, nur langue francais, un peut." "Ecco! Bon, bon - anch´ío francia - ma parlo molto meno!" Thomas zeigt auf die Holztafel: "No Cinema, - est un Magazin!" Die Männer lachen mit ihm. Mit Händen und Füßen erkundigen sie sich, ob es in diesem Magazin, oder negozzio, eventuell Pasta zu kaufen gibt. Thomas Behler führt sie die paar Schritte hin zu seinem Laden im Erdgeschoß seines Wohnhauses. Erst voriges Jahr hat er zusammen mit seiner Frau den Keller ausgebaut und darin ein Lebensmittelgeschäft eingerichtet.
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Dezember 1961 steht auf einer schwarzen Tafel in dem Erinnerungsfoto für die Eröffnung. 40 qm Ladenraum, an den weißgestrichenen Wänden praktische Regale für Haushaltwaren, für Konserven und Schreibartikel,schräg rechts eine Haltevorrichtung für Obst- und Gemüsekisten, Tiefkühltruhe und Aufschnittmaschine, Schokolade und Bonbons - Thomas Behler verspricht sich etwas von der Diskontwelle, die bei den Einzelhändlern seit einiger Zeit im Gespräch ist. Außerdem hat er in dieser Gegend nun das größte Geschäft unter den übrigen ca. 30 Verkaufsstellen.
Die vier Männer sehen sich in dem hübschen Laden um. Sie reden ununterbrochen, laut und ungeniert. Thomas Behler kann nur von wenigen Worten den Sinn erraten. Die Nudeln einer bekannten deutschen Firma gefallen den Kunden gar nicht. Sie fragen nach Original Pasta d´Ítalia. Thomas überlegt. Er hat richtig vermutet, daß die Männer in der Unterkunft für Gastarbeiter wohnen, eine Strecke Wegs hinter der Gabelung der Landstraße. Eine Tiefbaugesellschaft hat sie angeworben und ihnen in der Nähe des Dorfes eine Wohnbaracke hingestellt. Inzwischen sind es wohl zwanzig Männer, die dort leben - die meisten kommen direkt aus Sizilien, einige aus Kalabrien.Thomas müßte einen Großhändler ausfindig machen, der sich auf italienische Artikel spezialisiert hat. So etwas fällt ihm nicht schwer. Er vertröstet die Männer auf -Samedi, Sabbato- Bis Samstag hat er alles im Regal, was seine schwarzlockigen Kunden wünschen.
Thomas Behler kennt sich bald in der Unterkunft der Männer gut aus. Mehrmals in der Woche fährt er mit seinem Lieferbus die paar Kilometer bis zur Dorfgrenze und bringt Nudelpakete, Brot,
Fleischkonserven, Alkoholika, Parmesankäse, italienische
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Wurstsorten, Tomaten, Kartoffel - der Kundenstamm , der sich hier entwickelt hat, ist nicht zu verachten. Sie verständigen sich eine ganze Weile auf Französisch. Thomas kramt seine im Krieg erlernten Brocken hervor. Er hatte noch während seiner Lehrzeit in einem Rüstungsbetrieb französische Zwangsarbeiter an den Maschinen angelernt. Und Guiseppe ist stolz, daß er mit seinen, wer weiß wo, aufgeschnappten Französischbrocken glänzen kann. Nunzio möchte ein Brot. Nunzio sagt: Volio un pane - Guiseppe gibt weiter: Un pain, s´íl vouz plait. Thomas Behler wird es bald zu dumm. Pane, Pain,- dafür braucht er keinen Dolmetscher.
Es dauert nur einige Wochen, und Thomas nennt sämtliche Artikel seiner Sizilianer beim Namen und rechnet ihnen die Beträge ihrer Käufe in italienisch vor.
Erika Behler war viele Jahre Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus, aber ihr ist immer ein wenig mulmig zumute, wenn zehn bis zwölf der Herren in allen Ecken vom Laden herumgestikulieren. Sie kann ihrem Mann auch nicht ständig zur Seite stehen, ihre Kraft reicht nicht aus für einen ganzen Tag hinter der Theke.Thomas sieht sie oft besorgt an. Seit ihrer Operation geht es auf und ab mit Erikas Gesundheit. Er kann nur hoffen, daß sie sich bald erholt, er hat ja noch soviel vor, und jetzt ist er durch seine fremdsprachige Kundschaft auf ganz neue, aufregende Aufgaben gestoßen.
Zuerst möchte er so schnell wie möglich ihre Sprache besser lernen und anwenden. Die gründlichste Methode entdeckt er an einem späten Abend. Er hat sich einen Abreißkalender gekauft, in italienisch natürlich. Nun liest er, mit dem Lexikon neben sich, das Blatt mit der Tagesandacht von gestern, das Blatt mit der Andacht von heute und das nächste Blatt.Es bleibt ihm in diesen Wochen abends viel Zeit zum Lesen. Erika ist zur Kur im Harz.
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Tagsüber hält ihn die Arbeit vom Grübeln ab. Seit es so lebhaft und bunt bei ihm zugeht, finden sich auch immer mehr Hausfrauen aus der Nachbarschaft in seinem Laden ein. Bis dahin hatte er eigentlich mehr den Eindruck, er würde als "Ausländer aus der Großstadt" abgelehnt, ja boykottiert. Im Stillen amüsiert sich Thomas, wie Frau Müller und Frau Schmitz mit offenem Mund dabeistehen, wenn er mit seinen Italienern palavert wie einer von denen. Aber seine Freunde, die von den Köstlichkeiten deutscher Märkte, die sie sich jetzt locker leisten können, immer dicker und kurzbeiniger werden, - sie staunen auch. "Tomaso" kann lesen, er kann schreiben, er kann fremde Sprachen sprechen - und er ist geduldig und freundlich
mit ihnen. Er behandelt sie genauso wie seine deutschen Kunden. Das erleben sie nicht oft - weder am Arbeitsplatz noch auf der Straße. "Spaghettifresser!" ist noch eine von den
harmlosen "Nachrufen". Und sie sagen ihrem Thomas freiweg, daß ihnen ein Mensch wie er im kalten Deutschland etwas Besonderes ist.
Mitte Dezember fiel schon Schnee, alle Straßenarbeiter sind "auf Schlechtwettergeld".In der Unterkunft ist dicke Luft. Santo, Pietro und Guiseppe können über die Feiertage nicht nach Hause fahren. Thomas bringt den Grund dafür nicht aus ihnen heraus. Manchmal sind ihm die Sizilianer wieder so fremd wie am ersten Tag. Heiligabendmorgen ist noch einmal der Bär los im Laden. Zwei Aushilfsverkäuferinnen versuchen der Lage Herr zu werden, sie sehen flehentlich zu Thomas hinüber, wenn sie beim Käseschneiden für Frau Nebenan plötzlich italienisch angesprochen werden. Thomas stellt die Lieferorder zusammen, er lädt den Bus und fährt als letztes zur Unterkunft. Der Karton mit fünf Flaschen Grappa wird in Empfang genommen, Thomas
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tritt einen Schritt zurück. Die hochprozentige Fahne Guiseppes nimmt ihm den Atem. Santo und Pietro sitzen auf ihren Pritschen. Pietro tritt mit dem Fuß eine Flasche unters Bett. "Was habt ihr vor?" "Wir werden uns jetzt sinnlos besaufen, Tomaso, bis hierher - Guiseppes Hand findet nur schwer die Linie unter seinem Kinn. " Und wenn wir wieder nüchtern sind, dann ist Weihnachten vorbei, und die anderen Kameraden sind wieder hier. Basta."
Dieses Weihnachten ging wirklich vorbei, Guiseppe und die anderen sprechen nicht mehr davon. Der Frühling kündigt sich an. Die Kunden vermissen Erika Behler. Sie liegt im Krankenhaus, die zweite große Operation wird diese Woche vorbereitet.
Es ist ein Samstag wie viele in diesen Jahren. Santo hat neue Freunde mitgebracht. Sie kommen frisch aus Sizilien. Santo mimt den großen "Fremdenführer" für die drei jungen Männer so zwischen achtzehn und zwanzig.Es ist das erste Mal, daß sie aus den Bergen um Palermo herauskommen. Sie tragen die Einheitshosen, in denen Santo und die anderen auch ankamen. Es dauert nicht lange und Thomas kennt von jedem die Familienverhältnisse,die Schulausbildung, ihre Hoffnungen und Wünsche. Nur ein halbes Jahr wollen sie im Norden arbeiten, viel Geld nach Hause schicken, im Sommer zurückfahren und in der Heimat bei der Ernte helfen, nach dem Rechten sehen - vielleicht auch heiraten, wer weiß? Eine Braut haben sie schon lange, der Vater des Mädchens und ihr Vater waren sich einig, bevor der Junge zur Schule ging. Er hat immerhin drei Jahre in der Dorfschule verbracht. Sein Freund Giulio war zwei Jahre dort. O, er ist nicht dumm! Er kauft sich ein Brot und fragt: "Quanto costa?" Und Thomas sagt: Une Marke trent. Giulio zieht eine Handvoll deutscher Münzen aus der Tasche und legt eine blanke
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Mark und drei gelbe Groschen auf die Theke. Er sieht den Rest Münzen an und sagt: "E un´ etta Mortadella, prego!" Thomas wiegt die Wurst, rechnet aus und sagt: "Novandotto Pfennig, prego!" Giulio gibt eine Mark. Dann sortiert er wieder seine Münzen. "E un mezzo Kilo pomodori!" So geht das Spiel hin und her, bis Giulios Münzen alle sind. Draußen auf dem Weg streut er dann die restlichen sechs Kupferpfennige hinter sich. Pfennige behält er nicht, es könnte ihm Unglück bringen.
Samstagnachmittag schlendern zwei Unzertrennliche, Santo und Guiseppe, von der Unterkunft zu Thomas Haus. Behlers wohnen ja - wie praktisch - über dem Laden und sind meistens anwesend.
Guiseppe hat einen Brief bekommen. Vom Arbeitsamt. Es ist ein Formular, das ausgefüllt werden muß. Das ist für Guiseppe Chinesisch rückwärts. Thomas muß helfen. Santo hat auch eine
Bitte. Er möchte nach Hause telefonieren. Es wird ein Gespräch angemeldet, die Auslandsvermittlung gibt eine Wartezeit von ca. 2 Stunden an. Guiseppe und Santo sitzen mit am Kaffeetisch, sie haben auch nichts gegen ein deutsches Abendessen. Um 19 Uhr klingelt das Telefon. Santos Frau hat sich unzweifelhaft erst ihr
bestes Sonntagskleid angezogen, als es hieß, ihr Mann würde anrufen. Jetzt hört Thomas Behler und sein kleiner Sohn ihre aufgeregte Stimme aus dem Hörer, unterbrochen von Krächzen und Rauschen; aber Santo ist beruhigt, in Sizilien ist alles in Ordnung.
Guiseppe hat währenddem den Bücherrücken im Schrank entlanggesehen. "Ecco!" Thomas folgt seinem Blick. Dort steht eine Bibel in italienischer Sprache. Die Deutschen dürfen eine Bibel besitzen! In ihrem Haus! Das ist ungeheuerlich für Guiseppe. Und dann wird dieses Buch auch noch aus dem
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Schrank geholt, sogar angefaßt und aufgeschlagen!
Und Thomas liest Worte daraus vor, Worte die Guiseppe und Santo verstehen können, Worte die zu Sätzen werden. Und die Sätze sprechen von Geduld, von Liebe und von Gerechtigkeit! Guiseppe schüttelt langsam den Kopf, seine Hände wringen die Enden des Jacketts. Auch Santo kann es noch nicht glauben, solch ein Buch selbst in der Hand zu haben. "Was da drin steht, das hat doch Dante geschrieben! Dante Alighieri!" Darum ist es für ihn ein erhabenes Werk, das er ehrfürchtig wieder auf den Tisch zurücklegt. Thomas lacht. Er versucht, Santo den Unterschied zu erklären. Santo hat wohl irgendwann einmal etwas von Dantes berühmter "Divina Comedia" aufgeschnappt und verwechselt die "Göttliche Komödie" nun mit der "Heiligen Schrift".Er hat weder das eine wie das andere je von nahem gesehen.
Thomas Behler kennt seit Jugendtagen den Leiter eines Verlages für christliche Literatur. Dessen Haus ist in letzter Zeit fast zu klein für alle Schriften, Bücher, Kalender in den verschiedenen Sprachen, die immer mehr auf deutschen Straßen zu hören sind.Hauptsächlich Italienisch, aber auch Spanisch, Jugoslawisch und Griechisch ist dabei, und der alte Herr Kramer hat alles im Griff - er weiß, wo was gelagert ist, er weiß, mit welchen Worten wer am besten angesprochen wird. In diesem Jahr hat er eine junge Koreanerin als Praktikantin und scheucht sie mit der gleichen kauzigen Liebe wie seine übrigen Helfer.
Als Thomas schildert, was sich bei ihm in Haus und Laden abspielt, bekommt er von Herrn Kramer die Adresse eines Sizilianers aus der Nachbarstadt, der eine theologische Kurzausbildung macht und nach Möglichkeiten
sucht, seine Kenntnisse praktisch anzubringen. Dieser
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Domenico, verheiratet mit einer deutschen Frau, und Thomas sitzen kurze Zeit später in einem der Schlafräume in der Gastarbeiter-Unterkunft, und dann alle vierzehn Tage mit Gitarre, Liedblättern und Bibeln. Um sie herum der größte Teil von Thomas treuer Kundschaft im Laden. Sie singen mit Schmelz und Lautstärke, - und ab und zu treffen sie auch den richtigen Ton. Es gibt lange, ernste Gespräche, auch ziemlich heiße Diskussionen, und die Freundschaft wird enger.
Thomas und Domenico sind in der Unterkunft im Dorf ein fester Begriff geworden. Bis zu dem Tag, als sie von der Firmenleitung aufgefordert werden, ihre vierzehntäglichen Besuche sofort
einzustellen. Ein Landsmann aus dem hinteren Schlafraum hatte
eine Beschwerde eingereicht, die Singerei würde ihn sehr stören, wenn er abends früh zu Bett gehen wollte. Aber wohin nun zusammen mit denen, die wirklich mehr hören wollten, mehr lernen und verstehen von dem, was ihnen zuhause vorenthalten wurde? Erika Behler hat nach ihrem langen Krankenhausaufenthalt wieder eine gute Zeit. Sie spielt wieder mit im Gitarrenchor der Gemeinde und erzählt ihrer Freundin Magdalene von Thomas Problemen mit "seiner" Italienergruppe. Magdalene hat einen italienischen Stiefvater. Er ist viel jünger als ihre Mutter und lebt in der Familie wie Aschenputtel. Durch ihn kennt Magdalene alle italienischen Gastarbeiter aus der großen Firma für landwirtschaftliche Geräte. Das Unternehmen ließ sogar eine kleine Siedlung bauen für seine fremden Arbeiter. Dort wohnen nicht nur Junggesellen. Einsame Familienväter haben ihre Ehefrauen und die Kinder nachgeholt ins gelobte Land.
Hinter dem Firmengebäude gibt es einen Gemeindesaal. Thomas funktioniert seinen Lieferbus zum Personentransporter um und fährt die Gruppe zur gewohnten Zeit dorthin. Sie laden auch die
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Arbeiter aus der Siedlung zu ihren Stunden ein.Erika Behler, Magdalene und noch ein paar Freundinnen vom Gitarrenchor sind ganz stolz, wenn sie bei den Veranstaltungen für die Gastarbeiter wieder ein neues Lied auf Italienisch vortragen können. Für viele ihrer Zuhörer sind die Texte fast ebenso fremd wie für die deutschen Mädchen. Sizilien ist eben von Mailand und Rom doch sehr weit entfernt.
Thomas erfährt vieles vom Alltag in Sizilien. Geschichten von Großgrundbesitzern, die ihre Saisonarbeiter über den Tisch ziehen, Geschichten von Klöstern, die die Intelligenz der Landkinder in falsche Kanäle leiten, damit keine ernstzunehmende Opposition aufwächst, - Thomas freut sich mit Michele, der sich von seinen ersparten Lohngeldern als erstes einen Betonfußboden in sein Häuschen ziehen will und dann vom Brunnen aus eine Leitung ins Haus verlegen, damit seine Frau die schweren Wassereimer nicht mehr so weit schleppen muß.
Antonio fährt zu Anfang der Sommerferien ganz stolz mit zwei Kisten voller Einweck-Gläser nach Hause. Diese Methode, Obst zu konservieren, hat ihn total begeistert. Jetzt brauchen die Feigen und Aprikosen nicht mehr unter den Bäumen zu verrotten, weil die Menge der Früchte in der Reifezeit einfach nicht schnell genug gegessen werden kann.
Aus dem halben Jahr Arbeitszeit in Deutschland werden für die drei jungen Sizilianer um Santo dann im Nu mehr als sechs Jahre. Das heißt, in Wahrheit nur für zwei von ihnen. Giorgo kam nach dem Sommerurlaub nicht mehr in die Unterkunft zurück. Die
Firma hatte ihm ein Entlassungsschreiben nach Hause geschickt, weil er nach Ferienende nicht zur Arbeit erschienen war. Seinen Freunden hatte er nur gesagt, sein Geld sei noch nicht alle, er hätte noch mindestens für weitere drei Wochen genug zum
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Leben in seinem Heimatort, also, -warum sollte er zurückfahren? Daß die deutsche Firma davon absolut nicht begeistert war, verstand er überhaupt nicht. Diese Lebenseinstellung macht auch Thomas und Domenico manchmal zu schaffen. An ihrem Abend im Gemeindehaus gibt es regelmäßige und spontane Besucher, und zur Weihnachtsfeier drängten sich über 50 Gäste an den reichgedeckten Tischen. Auch in der nächsten Adventszeit wurde wieder geplant, geübt und eingekauft, die Tische dekoriert und an jeden Platz ein nettes Geschenk gelegt. Um 20.00 Uhr liefen die Helfer nervös durch die Räume, schauten zur Tür hinaus und konnten sich die Stille nicht erklären. Um 20.30 und um 21.00 Uhr wurden dann kleinlaut die Tische wieder umgestellt und alles in Kartons verpackt. Es war nicht einer der mehrfach eingeladenen Gäste erschienen.
Thomas verkaufte seinen Freunden italienische Pasta, er bot ihnen kleine Portionen Tiefkühlfleisch an und amüsierte sich mit ihnen über seine Ausrutscher in ihrer melodischen Sprache, wenn er zum Beispiel fragte: " Volete altri pezzi di cane? " anstatt "carne", denn Hundefleisch hatte er garantiert nicht in der Truhe!
Als der Kalender die Jahreszahl 69 zeigte, veränderte sich vieles für Thomas und auch für seine Italiener. Der Tod hielt Einzug in Haus und Laden. Erika Behler starb nur wenige Monate nach Thomas alter Mutter. Außer Thomas und dem verwaisten Sohn bedienten fremde Leute die Kundschaft. In der Unterkunft wohnten nur noch zehn "kleine Negerlein", die das Ende ihrer Arbeitszeit schon ahnten. Ein Teil ihrer Arbeitskameraden hatte sich in der Umgebung eigene Wohnungen gesucht und die Stelle gewechselt, aber die größere Anzahl war nach Italien zurückgekehrt, weil sie hofften, durch die europäische Hilfe auch für Sizilien nun in der Heimat eine Existenz aufbauen zu können. Die deutschen Firmen waren nicht sehr traurig darüber.
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War es 1972 oder 73 ? Seit einiger Zeit jedenfalls hat sich Familie Behler stark vergrößert. Eine neue Frau Behler steht im Laden und Ulrich Behler hat eine kleine Schwester.
Frau Behler lernt noch einige Gastarbeiter persönlich kennen. Zum Beispiel Maria-Guiseppa. Sie geht und spricht genau so, wie sich Lieschen Müller eine typische italienische "Mama" vorstellt. Sie kann wunderbar Pizza backen, die sogar eine viertel Stunde, nachdem sie aus dem Ofen kommt, noch genießbar ist.. Wenn gesungen wurde, war sie mit Leib und Seele dabei. Sie fand nur meist die Seite nicht, auf der das Lied stand. So reichte sie Thomas ihr Buch und bat, ihr die Nummer aufzuschlagen. Thomas drehte das Liederbuch dann ersteinmal herum. Maria-Guiseppa war es nicht aufgefallen, daß der Text auf dem Kopf stand. Frau Behler versuchte ernst zu bleiben. Maria war ja nicht Schuld daran, daß sie keine Schule besuchen durfte.
Von dem mittleren Weltuntergang bei dem jungen sizilianischen
Ehepaar, das in der Nähe der Unterkunft eine Wohnung in einem alten bergischen Fachwerkhaus gefunden hatte, hörte sie nur noch erzählen. Mario hatte die Schwangerschaft seiner Frau abgewartet und bald darauf sie und die winzige Marisa zu sich geholt.Beide fanden Arbeit, und gaben ihre kleine Tochter in die Obhut der deutschen Hausbesitzerin. Warum sollten sie sich Sorgen machen? Es war eine liebe Oma, ihr Baby war bei ihr gut aufgehoben. Die Monate vergingen, die Kleine plapperte die ersten Worte. Es waren deutsche Worte. "Oma, Oma!" und "runter, laufen!" Ihre Mama kam abends spät nachhause, nahm Marisa in die Arme und sagte: "Mio tesoro, dolce bambina mia!" Und Klein- Marisa schaute die Mama mit erschrockenen Augen an. Sie verstand Mama und Papa nicht. Die jungen Eltern hatten an ihrer Arbeitsstelle nur Kontakt mit Landsleuten, die deutsche Oma sprach kein Wort Italienisch - so spitzte sich die Lage zu.
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Marisa gehorchte nicht, wenn Papa rief: "Ecco, qui!" Wie sollte sie auch.Die Eltern verzweifelten und das Kind weinte, wenn der Vater tobte und schrie. Die kleine Familie zog dann fort, und Thomas wußte nichts mehr von ihnen.
Santo lebt noch heute in einer kleinen Stadt an der Wupper. Er arbeitet seit seinem 45. Lebensjahr nicht mehr - und das war ca. 1976 -. "Ich lange genug für meine Kinder gesorgt, nun sie sollen es für mich tun!" Das war seine überzeugte Antwort auf Thomas Frage. Thomas Behler und seine Familie haben kein Lebensmittelgeschäft mehr. Konkurrenz und Umstände führten zu einer völlig anderen Erwerbsquelle. Wenn er es richtig bedenkt, haben die Jahre der italienischen Gastarbeiter hier im Norden nicht viele Spuren hinterlassen. Es gibt Pizzerien, es gibt eine Menge mehr Nudelsorten und einige wenige familiäre Querverbindungen. Aber sonst? Nach den Sizilianern kamen vermehrt Jugoslawen, Griechen, Spanier, und dann Türken. Heute beherrscht Thomas mehr türkische Worte und Redewendungen als die meisten Italiener in all den Jahren Deutsch sprachen. Seine Erlebnisse mit Türken, Griechen, Japanern, englisch-sprechenden Holländern und deutsch-
radebrechenden Indern geben eine neue Story ab - aber an die hautnahe Dramatik der Zeit mit "seinen" Italienern" reicht sie nicht -oder noch nicht?- heran.
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